Grundlagen: Alles hängt mit allem zusammen
Das große Anliegen der Chinesischen Medizin ist die Pflege des menschlichen Lebens und die Bewahrung der Bedingungen, unter denen es wachsen und gedeihen kann. Ihr liegt mit dem Daoismus eine Weltanschauung zugrunde, nach der der Mensch Teil einer ungebrochenen Ganzheit ist, also alles mit allem verbunden ist: Menschen, Tiere, Pflanzen, der Kosmos bilden eine Einheit, alles entwickelt sich über Wechselwirkungen und Beziehungen. Gelenkt werden sie durch die Energie alles Lebendigen, das Qi (gesprochen: Tschi).
Weil alles miteinander verwoben ist, behandelt der Arzt für Chinesische Medizin nicht etwa ein erkranktes Organ allein, sondern sieht es in Wechselwirkung mit sämtlichen Körperfunktionen, dem Geist und der Seele.
In der chinesischen Tradition übernimmt der Arzt die Rolle eines Lehrenden: Er sieht seine Rolle nicht darin, einen überwiegend passiven Patienten eine an medizinischen Leitlinien orientierte Therapie angedeihen zu lassen, sondern gemeinsam mit ihm nach der individuellen Ursache des Leidens zu forschen und mittels chinesischer Behandlungsverfahren eine Verbesserung der Beschwerden oder gar eine Heilung herbeizuführen. Darüber hinaus stattet er den Patienten mit Wissen und Werkzeugen aus, die ihn befähigen sollen, seine Lebensenergie zu stärken und damit auch selbstständig gegen seine Beschwerden vorzugehen.
Die Chinesische Medizin ist auch eine vorbeugende Medizin. Früher wurden chinesische Ärzte danach beurteilt, wieviele Patienten unter Zehnen sie gesund erhalten konnten. Es gab also den Arzt "rettet neun von zehn", "rettet sieben von zehn" oder "rettet fünf von zehn". Wer noch weniger als die Hälfte zu retten verstand, galt allenfalls als Handwerker.
In dem berühmtesten klassischen Text der Chinesischen Medizin, dem "Leitfaden des Gelben Ahnherrschers", ist zu lesen:
„Eine Krankheit zu behandeln, die bereits ausgebrochen ist, wäre wie einen Brunnen zu graben, wenn man durstig ist, oder zu beginnen, Waffen zu schmieden, wenn der Krieg bereits ausgebrochen ist.“
Behandlungsverfahren: Die fünf Säulen der Chinesischen Medizin
Die Chinesische Medizin, oft auch „Traditionelle Chinesische Medizin" (TCM) genannt, umfasst verschiedene Behandlungsverfahren. Im Wesentlichen ruht sie auf fünf Säulen:
- Akupunktur,
- Arzneimitteltherapie,
- Ernährungslehre,
- der manuellen Therapie Tuina
- und der Bewegungsmeditation Qigong.
In unserer Praxis werden, je nach Bedarf und Therapiekonzept kombiniert, alle Verfahren angewandt. Hier befassen wir uns mit der Arzneimitteltherapie.
Arzneimitteltherapie: Kaiser, Minister, Adjutant und Bote
Medikamente in der Traditionellen Chinesischen Medizin sind meist pflanzlicher, aber auch tierischer und mineralischer Herkunft; sie werden nach bestimmten Prinzipien zu Rezepturen zusammengestellt. Diese bestehen aus dem „Kaiser“, dem wichtigsten Medikament, dem „Minister“ zur Wirkungsverstärkung, dem „Adjutanten“ zur Behandlung von Begleitsymptomen und dem „Boten“ zur Einschränkung von Nebenwirkungen und Hinleitung der Wirkung zu bestimmten Organen, Gefäßbahnen und Körperregionen sowie zur Harmonisierung der Gesamtwirkung der Rezeptur.
Zahlreiche klassische Rezepturen sind auch in standardisierter Form als Fertigpräparate auf dem internationalen Arzneimittelmarkt erhältlich. Die individuelle Rezeptur gilt als beste und wirksamste Anwendungsform. Pulverisierte Granulate haben eine schwächere Wirkung als das frische Dekokt (Abkochung) des originalen chinesischen Medikaments.
Pharmakologie: Die Grundzüge pharmakologischer Wirkungen sind für die chinesischen und die westlichen Medikamente ähnlich. Es gibt chinesische Medikamente mit hormonähnlichen und antibiotischen Wirkungen; wenig Erfahrung hat die westliche Medizin mit den vor allem in Südchina verbreiteten Tierstoffen, die fachkundig eingesetzt hochwirksam sein können. Zahlreiche chinesische Medikamente haben bei Überdosierung toxische Wirkungen, weshalb ihre Rezeptur und Anwendung nur von geschulten und erfahrenen Ärzten durchgeführt werden sollte. Eine beträchtliche Anzahl traditioneller chinesischer Heilpflanzen wächst auch in Europa bzw. kann dort angebaut werden.
Geschichte: Der Ursprung der Arznei-Verordnung chinesischer Arzneimittel liegt in der Erfahrung mit Lebensmitteln und Speisen. In der chinesischen Mythologie werden die Kenntnisse der Medikamente auf den legendären Ur-Kaiser Shen-Nong zurückgeführt, der angeblich selbst Heilpflanzen in der Wildnis aufsuchte, sie anbaute und jede Pflanze nach Geschmack und Wirkung am eigenen Leib testete. Auf ihn geht das Werk Shen-Nong Ben-Cao-Jing, „Der Leitfaden der Wurzeln und Pflanzen des gottgleichen Landmanns“ zurück, das noch heute im traditionellen Medizinunterricht Chinas verwendet wird. Aus jüngerer Zeit ist die „Angeordnete Übersicht über die heilenden Wurzeln und Pflanzen“ des Ming-zeitlichen Arztes Li Shi-Zhen zu nennen, welche 1892 Medikamente, mehr als 10 000 Rezepturen und über 1000 Abbildungen der verschiedenen Heilsubstanzen enthält. Es wurde im 17. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt; der Übersetzung verdankt die westliche Pharmakopoe (eine Sammlung von Vorschriften über die Qualität von Arzneimitteln, pharmazeutischen Hilfsstoffen und einzelnen Medizinprodukten) ihre ersten Kenntnisse über fernöstliche Heilpflanzen.